2013 performin‘ the city

performin‘ the city
Urbanität entwerfen. München – Fasanerie, Feldmoching, Lerchenau
Johannes – Göderitz – Preis 2013

 

Preisträger

1. Preisgruppe:

TU Braunschweig, Yvette Brdys und Fatma Bitek, “PARADieS IT”;
LU Hannover, Patrick Breuer und Frederick Faßbender, “Neue Mitte München”;
TU München, Leopold Böhm und Julian Schmidt, “sequence, performance, city”;

2. Preisgruppe:
TU Braunschweig, Franziska Eckerfeld und Henrike Borck, “LAND + SEE = STADT _ Seelandschaft Nordmünchen”;
TU München, Silviya Atanasova, “Fasamoching”;
TU München, Martina Kaindl und Hanna Ruck, “München findet STADTlandschaft”;

München wächst. Im Stadtgebiet und in der Region. In der Fläche und in der Anzahl an Einwohnern. Ein Wachstum, so stark wie in kaum einer anderen Stadtregion Deutschlands. Nach zuverlässigen Prognosen mindestens bis 2030. Dennoch oder gerade deswegen mangelt es immer gravierender an Wohnraum; gleichzeitig gilt es, die soziale Balance aufrecht zu erhalten.
Im Norden Münchens – an der Stadtgrenze und in direkter Nachbarschaft zur boomenden Flughafenregion – liegt ein großer, unbekannter Stadtteil. Mit viel Potenzial. Was findet man dort vor? Welche Art von Stadt kann man an diesem Ort entwerfen? Welche Vision von Wachstum, Urbanitätsbegriffen und Qualitäten kann an diesem Ort entstehen?

 

Situativer Urbanismus I Performativer Urbanismus *

Nikolai Anziferow, Geograf in St. Petersburg, betreibt Anfang der 1920er Jahre Stadtexkursionen als Exkursionswissenschaft. Die sinnliche Erfahrung des städtischen Raums liefert ebenso wichtige Erkenntnisse wie die Recherche in Bibliotheken und Kartenwerken. Eine gefährliche Praktik offenbar, die ihn ins Lager bringen wird. Sein Buch Die Seele Petersburgs (1922) wird zum Kultbuch in der späten Sowjetunion. Man kann in ihm einen der Vorläufer der urban und cultural studies sehen, für die das Reisen, das sorgfältige Beobachten des Alltags, das intensive Sich-Einlassen auf den Ort und die Banalität transitorischer Orte wichtig werden. Die Cultural Landscape Studies beachten die von Menschen beiläufig geformte Landschaft genauso wie die Gärten und Parks der Hochkultur, die bisher Gegenstand von Theorie und Geschichte gewesen sind. John Brinckerhoff Jackson fährt mit seinem Motorrad von der Ost- zur Westküste der USA und alles, was er sieht, ist wichtig. Lucius Burckhardt greift die Exkursionswissenschaft als Spaziergangs-Wissenschaft oder Promenadologie auf. Michel de Certeau schreibt 1980: „Der Akt des Gehens ist für das urbane System das, was die Äußerung (der Sprechakt) für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist.“ (Certeau 1988, 189) In der Sprache der Gegenwart nennt Francesco Careri das „walkscapes“, und er bezieht sich natürlich auf die Situationisten, radikale Aktionisten der 1960er Jahre, die heute wieder außerordentliche Beachtung finden.

Die Situationisten um Guy Debord entwickeln mit la dérive, dem ziellosen Umherschweifen, der Bewegung als Wahrnehmung und als Produktion von Raum, eine urbanistische Methode. Die Absichtslosigkeit des Flaneurs, der zur Jahrhundertwende die Passagen von Paris durchschlendert, findet sich ein halbes Jahrhundert später in ihrem ziellosen Umherschweifen wieder. Weitere fünfzig Jahre später ist die Rezeption der Situationistischen Internationale ungebrochen. Diese übt mit dem Konzept der psychosozialen Produktion des Raumes, der Psychogeografie, großen Einfluss in der Urbanistik aus, und ihre Radikalität macht sie zum immer wiederkehrenden Bezugspunkt in der Bildenden Kunst. Offensichtlich gibt es verschiedene Traditionsstränge, die hinter dem gegenwärtigen Interesse an Gehen und Reisen, leiblicher Erkenntnis und gelebtem Raum, kultureller Produktion des Raumes, situativem oder performativem Urbanismus stehen.

Die Architekturtheorie pflegt ebenfalls eine Diskurslinie, die den performativen Aspekt des Architektonischen hervorhebt. Der performative Aspekt betont die Komponente des räumlichen Erlebens, Erfahrens und Handelns, die unabdingbar in die architektonische Wirklichkeit eingeschlossen ist. Architektur verfügt demnach über ein Repertoire von spezifisch architektonischen Mitteln und Strukturen, die erst in einem kulturellen Ereignis, in einer Situation des Gebrauchs, der Bewegung und des Darin-Seins während der Rezeption Wirklichkeitscharakter entfalten. In diesem performativen Akt unterscheidet sich Architektur von den Bildenden Künsten einerseits und von systematischer Planung andererseits. Szenischer Raum, Baudrillard benutzt diesen Ausdruck für eben diesen Sachverhalt, ist ein entscheidender Aspekt entfalteter Architektur. „ […] szenischer Raum, ohne den, wie wir wissen, die Gebäude nur Konstruktion wären und die Stadt nur eine Agglomeration.“ (Certeau 1988,  189)

Die Architektur der Stadt wird vor diesem Hintergrund weit über ihre objekt- oder bildhaften Eigenschaften hinaus bewertet. Die architektonische Substanz ist Voraussetzung und Komponente von Ereignissen, aber in performativen Akten erst kommt sie zur Entfaltung, bekommt sie soziale und ästhetische Relevanz.
Im Vordergrund dieses Verständnisses von Architektur und Stadt stehen die Prozesshaftigkeit der räumlichen Erfahrung, die Ereignisstruktur von räumlichen Zusammenhängen, die Offenheit von räumlichen Strukturen. Performativer Urbanismus bleibt jedoch nicht bei einer psychogeografischen Rezeption von Stadt stehen, sondern sieht zugleich die Dringlichkeit von architektonischem Entwurf.

Sophie Wolfrum

Literatur:
Anziferow, Nikolai, Die Seele Petersburgs, Petersburg 1922; München 2003 I Baier, Franz Xaver, Raum. Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes, Köln 1996 I Baudrillard, Jean, Architektur. Wahrheit oder Radikalität?, Graz/Wien 1999 I Borden, Iain, Skateboarding, Space and the City. Architecture and the body, Oxford/New York 2001 I Careri, Francesco, Walkscapes. Walking as an Aesthetic Practice, Barcelona 2002
Certeau, Michel de, Gehen in der Stadt, in: Ders., Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 179–209 I Nieuwenhuys, Constant Anton (Constant)/Debord, Guy, Situationistische Definitionen. Amsterdam 1958, in: Conrads, Ulrich (Hg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Braunschweig 1981, S. 153f. I Fischer-Lichte, Erika, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004 I Gosztonyi, Alexander, Der gelebte Raum, in: Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften, Freiburg/München 1976, S. 943–971 I Janson, Alban/Jäkel, Angelika (Hg.), Mit verbundenen Augen durch ein wohlgebautes Haus. Zur szenischen Kapazität von Architektur, Frankfurt a. M. 2007 I Lefebvre, Henri, La Production de l’espace, Paris 1974 I Raumlabor Berlin (Hg.), Acting in public, Berlin 2008 I Situativer Urbanismus, Arch+ Nr. 183, 2007 I Soja, Edward W., Thirdspace, Blackwell 1996 I Urban Bodies, Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur, 7. Jg., H. 1, Cottbus 2002

* Text, erschienen in | Architektur der Stadt, Multiple City, Herausgeber Sophie Wolfrum und Winfried Nerdinger, Berlin 2008

 

Ort

Das Entwurfsgebiet befindet sich im Münchner Norden, zwischen dem Rangierbahnhof München-Nord und dem Autobahnring an der nördlichen Stadtgrenze, und umfasst die Stadtviertel Fasanerie, Feldmoching und Lerchenau. Inmitten des Areals liegen drei Seen: Fasanerie See, Feldmochinger See, Lerchenauer See.

Dazwischen Felder, eine Pappelallee, viel Grün, das Dorf Feldmoching, Gebäudetypen unterschiedlichster Ausprägung, eine Siedlung der Neuen Heimat am Lerchenauer See aus den 60ern, mit Punkten, Zeilen, Reihen. Bauernhöfe, Gärtnereien, Einfamilienhäuser aus den 50ern, Zweifamilienhäuser, Kleingärten, ein „Villenviertel Fasanerie“ am Blütenanger, eine Genossenschaftssiedlung aus den 20ern an der Marder-, Reh- und Hasenstraße. FC Fasanerie-Nord, SC Lerchenauer See, TSV München-Feldmoching. Heimat- und Volkstrachtenverein Riadastoana, Kulturhistorischer Verein auf dem Gfild. Alles im Schatten von Olympiaturm und Uptown München sowie der boomenden Stadtlandschaft zwischen Stadtgrenze und Flughafen.

Vieles Nebeneinander, über die U2 zur Messe und der S1 zum Flughafen hervorragend an den ÖPNV Münchens angebunden. Heterogene Gegensätze oder Varianz? Stadt?

 

Aufgabe

Die nachstehenden Hinweise sollen als Anhaltspunkte für die Bearbeitung der städtebaulichen Konzeption aufgefasst werden, um eine Vision, ein Konzept von Stadt und Urbanität zu entwerfen:

Stadt soll als solche auch lesbar sein, Urbanität ist erwünscht. Die präzise Auseinandersetzung mit Urbanitätsbegriffen soll als Grundlage aller Entscheidungen den Entwurfsprozess begleiten. Welches Verhältnis von baulicher Dichte und Erlebnisdichte ist für die Transformation des Entwurfsgebiets angemessen? Ein Großteil der Nutzungen sollte für Wohnen vorgesehen werden, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des fehlenden Wohnraums in München. Dabei sind innovative Wohnformen ausdrücklich erwünscht, Sonderwohnformen (z.B. Boardinghouse, Hotel, Altenwohnen, Studentenwohnen) sind konzeptabhängig ergänzend möglich.

Stadt besteht per se aus einem weiten Spektrum sich ergänzender und gegenseitig bedingender Funktionen. Entsprechend sind je nach Konzept die weiteren Nutzungen zu wählen und zu gewichten. Benötigt das bestehende Stadtfeld Fasanerie, Feldmoching, Lerchenau beispielsweise Einkaufsmöglichkeiten, Cafés, Bars, ein Kino, Arbeitsplätze, gewerbliche Flächen? Was macht Stadt aus, über diese Grundversorgung hinaus? Nicht zuletzt ist zu prüfen, welche soziale Infrastruktur benötigt werden könnte: Schulen, Kindergärten, Kinderkrippen, Spielplätze. Oder ist all dies bereits in ausreichender Dimension vorhanden?

Welche Freiräume benötigt die entwickelte architektonische Vision von Stadt? Welche Dimensionen, welche Gestaltung, welche Räume werden vorgeschlagen? Kann an bestehende Strukturen angeknüpft werden? Welcher Grad an Öffentlichkeit und Privatheit der Freiräume, welche Verteilung und Körnung erscheinen sinnvoll?

Stadt muss immer auch auf der Ebene des Verkehrs funktionieren. Reicht das vorhandene Netz an Straßen, Wegen und Öffentlichem Nahverkehr aus? „Seit einigen Jahren ist im Münchner Norden eine stetige Zunahme des Verkehrsaufkommens zu beobachten. Der Nordabschnitt des Autobahnrings und die beiden Anschlussstellen München-Ludwigsfeld und München-Neuherberg sind häufig überlastet.“ 8 Seit 2009 untersucht das Planungsreferat eine zusätzliche Anbindung an die A99 / A92. Welche Konsequenzen hätte eine solche Anbindung für das Stadtfeld? Welche Konzepte für den Ruhenden Verkehr (Stellplätze, Tiefgaragen, Parkhäuser) werden verfolgt? Ist ein grundlegender Wandel von Mobilitätsstrukturen und damit eine Neubewertung tradierter Regeln und Rahmenbedingungen schon in naher Zukunft zu erwarten?

Der „Faktor Zeit“ soll im Rahmen des Transformationsprozesses mitgedacht werden. Ein Szenario möglicher Schritte soll dargestellt werden. Im Rahmen der Bearbeitung soll ein „Titel“ für das Entwurfsgebiet formuliert werden.

All diese Faktoren zusammen genommen, wird eine städtebauliche Konzeption, eine Vision für das gesamte Entwurfsgebiet erwartet, die zu einem glaubhaften Stück Stadt beitragen kann – Urbanität entwerfen !

 

Auslobende Universität
TU München
Teilnehmende Universitäten
RWTH Aachen, TU Braunschweig, TU Dortmund, LU Hannover, TU München

 

Preisträger

 

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1. Preis: TU Braunschweig, Yvette Brdys und Fatma Bitek, “PARADieS IT”

 

 

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1. Preis: LU Hannover, Patrick Breuer und Frederick Faßbender, “Neue Mitte München”

 

 

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1. Preis: TU München, Leopold Böhm und Julian Schmidt, “sequence, performance, city”

 

 

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2. Preis: TU Braunschweig, Franziska Eckerfeld und Henrike Borck, “LAND + SEE = STADT _ Seelandschaft Nordmünchen”

 

 

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2. Preis: TU München, Silviya Atanasova, “Fasamoching”

 

 

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2. Preis: TU München, Martina Kaindl und Hanna Ruck, “München findet STADTlandschaft”

 

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